Donnerstag, 21. Februar 2013

Underreporting, nicht nur bei Jauch.




Fühlt ihr euch manchmal unverstanden? So als ob keiner ernst nimmt, wie schlecht es euch geht?
(So wie zur Zeit etwa Natascha Kampusch?)
Dann leidet ihr vielleicht unter emotionalem Underreporting.

Under-reporting heißt genau das, was es sagt: Unter-Berichten, also "zu wenig berichten", zu wenig Information - in diesem Fall über eure Emotionen - berichten. Oder anders gesagt:
Wenn man mit unbewegtem Gesicht über schlimme Erfahrungen berichtet, fühlt keiner mit.


Das passiert gerade (der über Jahre in einem Verlies misshandelten) Natascha Kampusch, wie man etwa bei ihrem Auftritt bei Günther Jauch sehen konnte*. 
Sie erhält von der Öffentlichkeit wenig Sympathie und wird teilweise hasserfüllt angefeindet, in der Presse, im Netz.
Ihr Fall ist natürlich einer der extremsten, mit unterschiedlichsten Faktoren. Aber einer der Gründe für all das Unverständnis ist auch ihre Art aufzutreten, mit einer relativ unbewegten Mimik, ihrer Zurückhaltung.

Verständlich, nach dem, was sie mitgemacht hat, werdet ihr vielleicht sagen.
Genau.
Dennoch: Viele von uns denken es vielleicht, empfinden es aber nicht so, denn:
Schwere und schmerzliche Erfahrungen so "herüber-gebracht" zu bekommen, dass es nach-fühlbar ist, das ist es anscheinend, was wir Menschen brauchen. Um unser Gegenüber einschätzen zu können, oder ihm überhaupt zu glauben. Für den Erzähler bedeutet das: Parallel zu den Worten mit Stimme, Blick, Körpersprache - nicht kühl berichten, sondern - das Leid auf emotionale Weise ausdrücken.
Das bedeutet aber auch: Genau in diesem Moment das Schlimme ein Stück weit wieder erleben, um es glaubhaft ausdrücken zu können. In den Schmerz "hineingehen", um ihn zeigen zu können.

Der Berichtende hat vielleicht die unbewusste(!), automatische Strategie: "Warum sollte ich das tun? Beim Wieder-Erleben werde ich aufgewühlt, aber mir hilft (wie in der Kindheit, während der Trauma-Erfahrung oder ähnlich) trotzdem keiner! Und ich muss mich dann wieder selber beruhigen, in einen guten inneren Zustand versetzen... da schütze ich mich lieber und zeige nicht, wie es in mir aussieht."
Aus seiner Sicht ein sehr sinnvoller Mechanismus, aber so erreicht der Betroffene möglicherweise Hilfswillige nicht, oder macht gar echte tiefe Beziehungen unmöglich.
Underreporting von Schmerz und schweren Gefühlen und Erfahrungen - damit haben viele Menschen, und nicht nur Opfer von Traumata Probleme. Und nicht nur Natascha Kampusch, sondern jeder, der an "Underreporting leidet" hat es in der großen und kleinen öffentlichen Meinung schwer, Sympathien zu gewinnen.**
Jemand wie Natascha Kampusch mag es als ungerecht empfinden, dass man ihr nach all dem Martyrium ihren Schmerz nicht glaubt und ihr auch noch "vorschreibt", wie emotional sie darüber zu berichten hat. Anderseits ist wohl nicht zu erwarten, dass die Menschen ihr Bedürfnis nach emotionaler Kommunikationsweise bald ändern.
Insofern wäre es für die Under-Reporter unter uns ideal trainiert zu werden, wie sie emotional erzählen können und vor allem::
flexibel entscheiden zu können, ob sie sich gerade schützen wollen oder ob es sinnvoll ist zu wagen, mehr von ihrem Schmerz zu zeigen, und damit für die anderen verständlicher, fühlbarer, nahbarer zu erscheinen... 
...Und sich damit zwar kurzfristig ungewohnt emotional ausgeliefert zu fühlen, aber dafür vielleicht die überraschende Erfahrung zu machen, dass sie wenigstens nachträglich Beistand und Sympathie von anderen erhalten.







* ARD Talkshow Günther Jauch Nr 56; http://www.bild.de/unterhaltung/leute/natascha-kampusch/wie-gut-geht-es-ihr-wirklich-28571896.bild.html
** Nachfühlbar in dem hervorragenden Krimi/Roman von Gillian Flynn: Gone Girl. Gibt es noch nicht auf Deutsch, aber unbedingt lesen! Aber Achtung, keine Kritiken lesen, Spoiler Alert!!!






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